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#7 Wir sind ganz angstallein

Wir sind ganz angstallein,
haben nur aneinander Halt,
jedes Wort wird wie ein Wald
vor unserm Wandern sein.
Unser Wille ist nur der Wind,
der uns drängt und dreht;
weil wir selber die Sehnsucht sind,
die in Blüten steht.



Rainer Maria Rilke (aus: Mir zur Feier)

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#6 Ich finde dich in allen diesen Dingen

Ich finde dich in allen diesen Dingen
denen ich gut und wie ein Bruder bin;
als Samen sonnst du dich in den geringen
und in den großen giebst du groß dich hin.

Das ist ein wundersames Spiel der Kräfte,
daß sie so dienend durch die Dinge gehn:
in Wurzeln wachsend, schwindend in die Schäfte
und in den Wipfeln wie ein Auferstehn.



Rainer Maria Rilke (aus: Das Stundenbuch)

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#5 Der Alchimist

Seltsam verlächelnd schob der Laborant
den Kolben fort, der halbberuhigt rauchte.
Er wusste jetzt, was er noch brauchte,
damit der sehr erlauchte Gegenstand

da drin entstände. Zeiten brauchte er,
Jahrtausende für sich und diese Birne
in der es brodelte; im Hirn Gestirne
und im Bewusstsein mindestens das Meer.

Das Ungeheuere, das er gewollt,
er ließ es los in dieser Nacht. Es kehrte
zurück zu Gott und in sein altes Maß;

er aber, lallend wie ein Trunkenbold,
lag über dem Geheimfach und begehrte
den Brocken Gold, den er besaß.



Rainer Maria Rilke (aus: Der Neuen Gedichte Anderer Teil)

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#4 Du weißt wie die Mandeln blühn

Du weißt
wie die Mandeln blühn
und daß Seen blau sind.
Viele Dinge, die nur im Gefühle der Frau sind,
welche die erste Liebe erfuhr,
weißt du. Dir flüsterte die Natur
in des Südens spätdämmernden Tagen
so unendliche Schönheit ein,
wie sonst nur selige Lippen sie sagen
seliger Menschen, die zu zwein
eine Welt haben und eine Stimme –
leiser hast du das alles gespürt, –

Deine Briefe kamen von Süden,
warm noch von Sonne, aber verwaist, –
endlich bist du selbst deinen müden
bittenden Briefen nachgereist;
denn du warst nicht gerne im Glanze,
jede Farbe lag auf dir wie Schuld,
und du lebtest in Ungeduld,
denn du wußtest: Das ist nicht das Ganze.
Leben ist nur ein Teil … Wovon?
Leben ist nur ein Ton … Worin?
Leben hat Sinn nur verbunden mit vielen
Kreisen des weithin wachsenden Raumes, –
Leben ist so nur der Traum eines Traumes,
aber Wachsein ist anderswo.

 

Rainer Maria Rilke (aus: Requiem)

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#3 Mein Leben ist

Mein Leben ist nicht diese steile Stunde,
darin du mich so eilen siehst.
Ich bin ein Baum vor meinem Hintergrunde,
ich bin nur einer meiner vielen Munde
und jener, welcher sich am frühsten schließt.

Ich bin die Ruhe zwischen zweien Tönen,
die sich nur schlecht aneinander gewöhnen:
denn der Ton Tod will sich erhöhn –

Aber im dunklen Intervall versöhnen
sich beide zitternd.
Und das Lied bleibt schön.



Rainer Maria Rilke (aus: Das Stundenbuch)

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#2 Ich bin, du Ängstlicher…

Ich bin, du Ängstlicher. Hörst du mich nicht
Mit allen meinen Sinnen an dir branden?
Meine Gefühle, welche Flügel fanden,
Umkreisen weiß dein Angesicht.
Siehst du nicht meine Seele, wie sie dicht
Vor dir in einem Kleid aus Stille steht?
Reift nicht mein mailiches Gebet
An deinem Blicke wie an einem Baum?

Wenn du der Träumer ist, bin ich dein Traum.
Doch wenn du wachen willst, bin ich dein Wille
Und werde mächtig aller Herrlichkeit
Und runde mich wie eine Sternenstille
Über der wunderlichen Stadt der Zeit.

 

Rainer Maria Rilke (aus: Das Stundenbuch)

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#1 Ich bin auf der Welt zu allein und doch nicht allein genug

Ich bin auf der Welt zu allein und doch nicht allein genug,
um jede Stunde zu weihn.
Ich bin auf der Welt zu gering und doch nicht klein genug,
um vor dir zu sein wie ein Ding,
dunkel und klug.
Ich will meinen Willen und will meinen Willen begleiten
die Wege zur Tat;
und will in stillen, irgendwie zögernden Zeiten,
wenn etwas naht,
unter den Wissenden sein
oder allein.

Ich will dich immer spiegeln in ganzer Gestalt,
und will niemals blind sein oder zu alt
um dein schweres schwankendes Bild zu halten.
Ich will mich entfalten.
Nirgends will ich gebogen bleiben,
denn dort bin ich gelogen, wo ich gebogen bin.
Und ich will meinen Sinn
wahr vor dir. Ich will mich beschreiben
wie ein Bild das ich sah,
lange und nah,
wie ein Wort, das ich begriff,
wie meinen täglichen Krug,
wie meiner Mutter Gesicht,
wie ein Schiff,
das mich trug
durch den tödlichsten Sturm.


Rainer Maria Rilke (aus: Das Stundenbuch)

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